18
Hans und sein Zuhause
Ich scheine bei Frauen nur Mitleid erwecken zu können. Als ich erwachte, war eine Jüdin da, die sich um mich kümmerte …
Auch sie hatte sich in den Kopf gesetzt, mich vom Trinken abzubringen! … Und wie die andere hat sie mich als Kind behandelt! …«
Er lachte. Er hatte feuchte Augen. Es war ermüdend, all diesen Veränderungen, dem wechselnden Mienenspiel zu folgen.
»Nur hat es diesmal Bestand gehabt … Was Pietr betrifft … Sicher sind wir nicht umsonst Zwillinge, und es gibt trotz allem Gemeinsamkeiten zwischen uns …
Ich habe Ihnen schon gesagt, daß er eine Deutsche aus der höheren Gesellschaft hätte heiraten können … Nun, er tat es nicht! … Er hat etwas später, als sie ihre Stellung gewechselt hatte und in Fécamp arbeitete, Berthe geheiratet … Er hat ihr nicht die Wahrheit gesagt …
Ich verstehe das! … Sehen Sie, das Bedürfnis nach einem sauberen, friedlichen Eckchen … Und er hatte Kinder! …«
Man hatte den Eindruck, daß das zuviel für ihn war. Seine Stimme brach ab. Er hatte richtige Tränen in den Augen, die jedoch gleich wieder wegtrockneten, als seien seine Lider zu heiß.
»Noch heute morgen glaubte sie, mit einem echten Hochseekapitän verheiratet zu sein …
Hin und wieder verbrachte er zwei Tage oder einen Monat bei ihr und den Kindern …
Ich konnte mich während dieser Zeit nicht von der anderen lösen, von Anna …
Schwer zu sagen, warum sie mich liebte … Aber sie liebte mich, da besteht kein Zweifel …
Und ich behandelte sie so, wie ich mein Leben lang von meinem Bruder behandelt worden war … Ich beleidigte sie … Ich setzte sie ständig herab …
Wenn ich mich betrank, weinte sie … Und ich trank absichtlich! …
Ich habe sogar zu Opium und manchem anderen Dreck gegriffen … Mit Absicht! …
Dann wurde ich krank, und wochenlang pflegte sie mich. Denn am Ende macht einen das kaputt …«
Angewidert zeigte er seinen Körper. Gleichzeitig bat er: »Können Sie nicht noch etwas zu trinken raufbringen lassen?«
Maigret zögerte einen Augenblick, dann rief er von der Treppe aus:
»Rum!«
Der Lette bedankte sich nicht.
»Ab und zu ergriff ich die Flucht, fuhr nach Fécamp und strich um die Villa, in der Berthe wohnte … Ich sah sie wieder … Sie schob den Kinderwagen mit ihrem ersten Baby …
Wegen unserer Ähnlichkeit hat ihr Pietr wohl sagen müssen, daß ich sein Bruder war …
Einmal hatte ich eine neue Idee … Schon als wir noch Kinder waren, hatte ich mir in den Kopf gesetzt, Pietr nachzuahmen, weil ich ihn bewunderte …
Kurz, ich war so von diesen verwirrenden Gedanken beherrscht, daß ich mich eines Tages wie er gekleidet habe und da hingefahren bin …
Das Dienstmädchen hat nichts gemerkt … Als ich jedoch die Wohnung betrat, kam das Kind und rief:
›Papa!‹
Ich bin einfach ein Dummkopf! Ich hab mich davongemacht! Trotzdem ist mir das nicht aus dem Kopf gegangen …
Von Zeit zu Zeit traf sich Pietr mit mir … Er brauchte Fälschungen …
Ich machte sie ihm. Warum?
Ich haßte ihn, und dennoch erlag ich seiner Autorität …
Er verschob Millionen, verkehrte in Palästen, in Salons …
Zweimal ist er festgenommen worden, und beide Male konnte er sich aus der Affäre ziehen …
Ich habe mich niemals mit seiner Organisation beschäftigt, aber Sie müssen wie ich ahnen, worum es geht. Solange er allein war oder nur mit einer Handvoll Komplizen zusammen, hat er sich nur an Geschäfte mittleren Kalibers herangewagt … Aber Mortimer, den ich erst kürzlich kennengelernt habe, fiel er auf … Mein Bruder hatte die nötige Geschicklichkeit, Dreistigkeit, ja man kann sagen Begabung. Der andere besaß den Kredit und den guten Ruf in der ganzen Welt …
Pietrs Aufgabe war es, die großen Halunken unter seiner Autorität zusammenzubringen und die Anschläge zu organisieren. Mortimer war der Bankier des Unternehmens …
All das war mir gleichgültig … Wie mein Bruder mir schon in Dorpat gesagt hatte, als ich noch studierte, war ich ein Versager … Und wie alle Versager trank ich und schwankte zwischen Phasen der Niedergeschlagenheit und des Überschwangs …
Nur einen Rettungsanker gab es in dem ganzen Treiben, und ich frage mich immer noch, warum, aber es war sicher das einzige Mal, daß ich ein mögliches Glück vor mir sah: Berthe …
Unglücklicherweise bin ich letzten Monat dort gewesen … Berthe hat mir Ratschläge erteilt … Und sie hat hinzugefügt: ›Warum nicht dem Beispiel Ihres Bruders nacheifern? …‹
Dabei fiel mir plötzlich etwas ein. Ich habe nicht begriffen, warum ich nicht eher daran gedacht hatte …
Ich konnte Pietr sein, sobald es mir beliebte!
Wenige Tage später schrieb er mir, daß er nach Frankreich komme und mich brauche.
Ich bin ihm nach Brüssel entgegengefahren. Vom Gegengleis aus bin ich in den Zug gestiegen und habe mich so lange hinter dem Gepäck versteckt, bis er aufstand, um sich in den Waschraum zu begeben. Ich war vor ihm dort.
Ich habe ihn getötet! Ich hatte einen Liter belgischen Genever gekippt. Am schwierigsten war, ihn zu entkleiden und ihm meine Sachen überzuziehen …«
Er trank mit großen Schlucken, mit einer Gier, die Maigret nicht für möglich gehalten hatte.
»Hat Mortimer bei Ihrer ersten Begegnung im Majestic etwas geahnt?«
»Ich glaube schon. Aber es war ein vager Verdacht. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich nur den einen Gedanken: Berthe wiederzusehen …
Ich wollte ihr die Wahrheit gestehen … Ich hatte eigentlich keine Gewissensbisse, und dennoch war ich nicht in der Lage, aus meinem Verbrechen den Nutzen zu ziehen … In Pietrs Koffer waren Kleidungsstücke aller Art … Ich zog mich an wie ein Landstreicher, das war ich ja gewöhnt. Ich habe das Hotel durch den Hinterausgang verlassen … Ich merkte, daß Mortimer mir folgte, zwei Stunden habe ich gebraucht, um ihn abzuschütteln …
Dann habe ich ein Taxi genommen und mich nach Fécamp fahren lassen …
Berthe hat bei meiner Ankunft nichts begriffen … Und ich hatte, als ich erst einmal vor ihr stand und sie mir Fragen stellte, einfach nicht den Mut, mich zu beschuldigen!
Sie kamen unvermutet hinzu … Ich habe Sie durchs Fenster gesehen … Ich habe Berthe erzählt, daß ich wegen Diebstahls verfolgt werde, und sie gebeten, mich zu retten.
Als Sie weg waren, hat sie zu mir gesagt:
›Gehen Sie jetzt! Sie entehren das Haus Ihres Bruders …‹ Tatsächlich, das hat sie gesagt! Und ich habe mich davongemacht! Und dann sind wir nach Paris zurückgekehrt, Sie und ich …
Ich bin zu Anna gegangen … Natürlich gab es eine Szene! … Tränen! … Um Mitternacht kam Mortimer, der jetzt alles durchschaut hatte und mich umzubringen drohte, wenn ich nicht endgültig Pietrs Platz einnähme …
Für ihn war das eine entscheidende Frage … Pietr war sein einziger Verbindungsmann zu den Banden … Ohne ihn hatte er keine Macht über sie …
Wieder das Majestic … Und Sie hinter mir her! … Ich hörte von einem toten Inspektor reden … Ich sah, daß Sie unter der Jacke ganz steif waren …
Sie können sich gar nicht vorstellen, wie satt ich das Leben hatte! …
Bei dem Gedanken, dazu verurteilt zu sein, ewig die Rolle meines Bruders zu spielen …
Erinnern Sie sich an die kleine Bar? Und an das Foto, das Sie fallenließen? …
Seit Mortimers Besuch im Roi de Sicile hatte Anna protestiert … Sie fühlte sich durch diese Veränderung zurückgesetzt … Sie begriff, daß meine neue Aufgabe mich von ihr entfernte …
In meinem Zimmer im Majestic habe ich am Abend eine Tasche und einen Brief vorgefunden …«
»Einen grauen Konfektionsanzug und ein paar Zeilen von Anna, daß sie Mortimer töten würde und Sie irgendwo treffen wolle …«
Dicke Rauchschwaden hingen im Zimmer, das nun etwas wärmer war. Die Umrisse der Gegenstände verschwammen allmählich.
»Sie sind gestern hergekommen, um Berthe zu töten …«, sagte Maigret.
Sein Gesprächspartner trank. Er leerte sein Glas, bevor er antwortete, und hielt sich am Kamin fest.
»Um mit der ganzen Welt Schluß zu machen! Und mit mir! … Ich hatte die Nase voll, von allem! … Und ich hatte nur noch einen Gedanken im Kopf, den mein Bruder als typisch russisch bezeichnet hätte … Mit Berthe zu sterben, einer in den Armen des anderen …«
Er unterbrach sich und fuhr mit veränderter Stimme fort: »Es ist idiotisch! Man braucht einen Liter Alkohol, um auf solche Ideen zu kommen … Vor der Tür stand ein Polizist … Ich wurde wieder nüchtern … Ich streifte umher … Heute morgen habe ich dem Dienstmädchen ein Briefchen mitgegeben, in dem ich meine Schwägerin um ein Treffen auf der Mole bat und hinzufügte, wenn sie nicht selber käme und mir etwas Geld brächte, würde ich gefaßt werden …
Gemein, nicht wahr? …
Sie ist gekommen …«
Mit beiden Ellbogen auf den Marmorsims des Kamins gestützt, brach er plötzlich in Schluchzen aus, nicht wie ein Mann, sondern wie ein Kind. Immer wieder von Schluckauf unterbrochen, erzählte er weiter:
»Ich habe es nicht übers Herz gebracht! … Wir standen im Dunkeln … Das Meer rauschte … Auf ihrem Gesicht wachsende Unruhe … Ich habe alles gesagt … Alles! … Auch von dem Verbrechen habe ich gesprochen … Ja, vom Kleiderwechsel in dem engen Waschraum … Als sie dann wie eine Verrückte aussah, habe ich geschworen, daß alles nicht wahr sei … Warten Sie! … Nicht der Mord! … Aber daß Pietr ein Lump sei … Ich habe ihr ins Gesicht geschrien, daß ich das alles erfunden hätte, um mich zu rächen … Sie mußte es glauben … So etwas glaubt man immer … Sie hat die Handtasche, in der das Geld war, auf die Erde fallen lassen. Und sie hat zu mir gesagt … Nein! … Sie hat nichts mehr sagen können …«
Er hob den Kopf, wandte Maigret sein verkrampftes Gesicht zu, versuchte zu gehen, schwankte jedoch und mußte sich am Kamin festhalten.
»Reichen Sie mir die Flasche, Mann! …«
Und in diesem ›Mann‹ lag eine kameradschaftliche Zuneigung.
»Hören Sie! … Geben Sie mir einen Moment dieses Foto … Sie wissen schon …«
Maigret zog Berthes Porträt aus der Brieftasche, die er bei sich behalten hatte. Das war der einzige Irrtum, der ihm in diesem ganzen Fall unterlief, nämlich zu glauben, daß es die junge Frau sei, die die Gedanken von Hans im Augenblick beschäftigte.
»Nein … Das andere … Das von den beiden Jungen mit dem bestickten Matrosenkragen! …«
Der Lette betrachtete es wie verzückt. Der Kommissar sah es verkehrt herum, aber er gewahrte die Bewunderung des blonderen Jungen für seinen Bruder.
»Sie haben mit meinen Kleidern meinen Revolver mitgenommen!« sagte Hans plötzlich unbeteiligt, emotionslos und schaute sich um. Maigret wurde dunkelrot. Er deutete linkisch auf das Bett, wo seiner lag.
Daraufhin ließ der Lette den Kamin los. Er schwankte nicht mehr. Er mußte seine ganze Energie zusammenreißen.
Er ging knapp einen Meter am Kommissar vorbei. Beide hatten noch ihre Morgenmäntel an. Die Rumflasche hatten sie zusammen ausgetrunken.
Die zwei Stühle standen sich noch rechts und links von dem Holzkohlengrill gegenüber.
Ihre Blicke kreuzten sich. Maigret hatte nicht den Mut, sich abzuwenden. Er erwartete einen Aufschub.
Aber Hans bewegte sich ganz gerade weiter und setzte sich auf den Rand des Bettes, dessen Matratze knarrte.
Es war noch ein bißchen Rum in der zweiten Flasche. Der Kommissar griff danach. Der Flaschenhals stieß klirrend ans Glas. Er trank langsam. Oder tat er nur so, als trinke er? Er hielt den Atem an.
Endlich ein Knall. Er leerte das Glas mit einem Zug.
Das las sich in der Amtssprache so:
Am … November 19. um zehn Uhr vormittags hat sich Hans Johannson, geboren in Pleskau, Rußland, estnische Staatsangehörigkeit, ohne Beruf, wohnhaft in Paris, Rue du Roi de Sicile, nachdem er sich des Mordes an seinem Bruder Pietr Johannson für schuldig bekannt hatte, der im Nordexpreß am … November desselben Jahres begangen worden war, kurz nach seiner Festnahme in Fécamp durch Kommissar Maigret vom Kriminaldezernat durch eine Kugel in den Mund das Leben genommen.
Das Geschoß, Kaliber 6 mm, hat den Gaumen durchschlagen und sich im Gehirn festgesetzt. Der Tod trat auf der Stelle ein.
Die Leiche ist zur weiteren Untersuchung ins Gerichtsmedizinische Institut überführt worden, das den Eingang bestätigt hat.